„Die Seiten in mir,                 die ich lieber verstecke“

12.6.25


Heute saß ich im Bus, und plötzlich merkte ich, wie mein Blick durch die Reihen schweifte – wie ich die Menschen anschaute und bewertete. Ihre Kleidung. Ihre Aussehen. Ihre Ausstrahlung. Es ist ein altes Muster, das sich wieder meldet. Und vielleicht meldet es sich gerade jetzt, weil ich drei Wochen lang in einer anderen Welt war: in den Bergen, in der Natur, in der Stille.

Dort war alles es... weit. Friedlich. Klar. Still. Und jetzt? Baustellenlärm direkt vor unserem Haus. Die Menschen um mich herum wirken gehetzt, müde, manche verbittert. Ich nehme das alles so stark wahr – ihre Emotionen, ihre Unruhe. Und oft fällt es mir noch schwer zu unterscheiden: Was ist meins – und was gehört zu ihnen?

Warum fange ich dann an zu bewerten? Was will dieses alte Muster mir eigentlich sagen?


Ich weiß inzwischen: Es taucht immer dann auf, wenn ich mit mir selbst nicht verbunden bin. Wenn ich mich nicht gut genug fühle, klein, nicht zugehörig. Wenn ich mit mir selbst nicht ganz in Frieden bin. Es ist wie ein innerer Schutzmechanismus, der mir vorgaukelt, ich sei ‚besser‘ – nur damit ich mich nicht so minderwertig fühlen muss. Aber tief drin weiß ich – das führt zu nichts. Es heilt nichts. Im Gegenteil. Es trennt mich von anderen – und auch von mir selbst.

Es hat lange gedauert, bis ich diesen Schatten in mir überhaupt erkennen konnte. Und als ich ihn sah, war da erstmal nur Scham. 

Denn ich komme – wie viele von uns – aus einer Kultur, in der ständig bewertet wird. Doch wenn wir wirklich heilen wollen, müssen wir auch den Mut haben, unsere Schatten ehrlich anzuschauen. Und: sie annehmen. Nur so kann Transformation entstehen.

Also spreche ich diesen Satz heute laut aus – mit offenem Herzen, auch wenn es mir schwerfällt:

„Ich bewerte und verurteile andere Menschen in Momenten, in denen ich mich selbst klein, nicht gut genug oder wertlos fühle.“


Ich lade dich ein, den Satz auch laut auszusprechen – sofern du dieses Muster kennst. Denn nur, indem wir zu unseren Schatten stehen und sie annehmen, können wir sie wirklich heilen. 

Und ja, es hat Gründe, warum dieser Schatten in uns lebt. Und – soweit ich das beobachten kann – in vielen von uns.

Er ist nicht „zufällig“ da. 

Er ist entstanden durch unsere frühen Erfahrungen – durch Prägungen aus der Kindheit, durch die Art, wie unsere Eltern uns begegnet sind oder eben nicht. 

Durch die Sätze, die wir oft gehört haben. 

Durch die Gefühle, die wir nicht zeigen durften. 

Und durch die Rollen, die wir lernen mussten, um geliebt oder zumindest akzeptiert zu werden. 

Aber auch die Gesellschaft prägt uns. Sie lehrt uns, zu vergleichen, zu funktionieren, zu gefallen – anstatt zu fühlen, zu verbinden und einfach zu sein. 

Sie sagt uns, wer „richtig“ ist und wer „falsch“. Und in all dem verlieren wir oft den Zugang zu unserer echten, weichen, verletzlichen Wahrheit. 

Doch der Schatten zeigt uns genau das: Was in uns noch gesehen, gefühlt, geliebt werden will. Nicht bekämpft – sondern gehalten. 

Als all das in mir durchwirkte, konnte ich das Muster loslassen.

Mein Blick schweifte nach links. Im Bus neben mir saß eine Frau, die etwas auf ihrem Handy las. Meine Augen glitten ungewollt zu ihrem Bildschirm, und das erste Wort, das mir ins Auge sprang, war: JUDGE. Bewerten. Da war es also wieder. Kein Zufall. Ein kleiner Wink?

Ich konnte nicht alles lesen, aber ein Satz blieb hängen:

„Solange wir andere bewerten, leben wir in einer Illusion.“


Und ja – das fühle ich.

Wir können andere nur dann wirklich sehen und lieben, wenn wir uns selbst lieben. Wenn wir aufhören, gegen uns selbst zu kämpfen. Es ist immer ein Spiegel.

Ich frage mich:

  • Wie oft leben wir in dieser Illusion?
  • Wann fühlen wir uns wirklich verbunden – mit uns, mit der Liebe, mit etwas Größerem?
  • Und wie könnten unsere Beziehungen aussehen, wenn wir den Mut hätten, mit unseren Schatten wirklich da zu sein und uns zu zeigen mit allem was wir sind? 
  • Wie viel tiefer könnten die Verbindungen zu anderen Menschen sein? 


Ich will lernen, in der Liebe zu bleiben. Nicht perfekt. Aber dafür ehrlich. Authentisch. Wahrhaftig. 

Denn ich glaube: Dort, wo wir unsere Schatten sehen und halten können, beginnt das Licht.

Wie siehst du das? Hast du dich in meinem Text wiedererkannt? 

Wie begegnest du deinen Schatten? Und kannst du dir selbst mit Mitgefühl begegnen – auch dort, wo es dunkel ist?